Stand: 06.02.2023 18:11 Uhr
In Nigeria werden mindestens 25.000 Menschen vermisst, darunter 14.000 Kinder - so viele wie nirgends sonst in Afrika. Hauptverantwortlich ist die Terrorgruppe "Boko Haram". Die Regierung will nun reagieren - mit einer Datenbank.
Joshua Audu klingt wenig hoffnungsvoll, als er zum wahrscheinlich tausendsten Mal von dem Unglück erzählt, das ihm und seiner Familie widerfahren ist: "Ich kann gar nicht sagen, was ich alles durchgemacht habe. Es ist ein Ereignis von einem Bundesstaat zum anderen. Von einem Schmerz zum nächsten."
Begonnen habe es am 5. September 2014, als Bewaffnete in sein Dorf einfielen, sagt Audu: "Ich habe meine Lebensgrundlage verloren, mein Zuhause, meine Geflügelfarm. Gott sei Dank konnte ich mit meiner Frau und Kindern entkommen. Während wir noch unseren Verlust beklagten, starb keine Woche später meine Mutter. Wir konnten nicht zu ihr, ihr nicht helfen. Sie starb an simpler Malaria."
Kurz darauf sei auch noch der jüngere Bruder seiner Frau verschwunden: "Er hilft mir und ist Teil meines Unternehmens. So führte eines zum anderen und da stehe ich heute." Joshua Audu ist ein sogenannter IDP, "internally displaced person". So werden Menschen genannt, die innerhalb ihres eigenen Landes vertrieben wurden. In Nigeria gibt es Millionen von ihnen.
Angehörige warten verzweifelt auf Nachricht
Dazu gehört auch die Familie von Kaltume Mustapha Yarima. Sie kommt aus Maiduguri, einer Stadt im Nordosten des Landes. Der Terror der Islamistenmiliz "Boko Haram" erschüttert diese Region regelmäßig. "Ich vermisse meinen Bruder, meine Schwester und ihre vier Kinder und meinen Onkel", sagt Yarima. Am 18. Mai 2019 habe seine Schwester ihr Haus verlassen - seitdem fehle jede Spur von ihr. "Bis heute hat sie nicht angerufen, wir wissen nicht, wo sie ist. Und mein Bruder - er war das Rückgrat der Familie, er kümmerte sich um alles. Nur das Rote Kreuz hilft uns, sie beraten uns, kommen zu uns nach Hause. Aber die Regierung macht gar nichts", sagt Yarima.
Regierung will besseren Überblick über Vermisstenfälle
Das soll sich jetzt ändern, so hat es Nigerias Regierung in der Hauptstadt Abuja angekündigt. Denn das Problem werde mehr und mehr zu einer Epidemie für das westafrikanische Land, erklärt Oberst Sadeeq Garba Shehu, Sonderassistent des Präsidenten für humanitäre Angelegenheiten: "In Afrika sprechen wir zurzeit über 64.000 Menschen, die vermisst werden. Und 25.000 davon werden in Nigeria vermisst. Das ist ein großer Schock, denn es heißt, wir machen mehr als 60 Prozent der Vermissten in Afrika aus."
Nigeria habe kein eigenes nationales Register über Vermisste und sei deshalb auf die Daten von Nichtregierungsorganisationen angewiesen, wie dem Internationalen Roten Kreuz. "Die machen eine gute Arbeit, aber das entbindet kein Land von seiner eigenen Verantwortung, eine eigene Datenbank zu haben", sagt Shehu. Deswegen werde die Regierung nun ein eigenes Vermisstenregister aufbauen, um die Suche gezielter angehen zu können.
Dunkelziffer wohl noch viel höher
Yann Bonzon vom Internationalen Roten Kreuz in Nigeria begrüßt die Initiative. Er beobachtet seit zwei Jahren, wie sich nicht nur im Norden des Landes die Situation zuspitzt. So würden Terror, ethnische Konflikte, Menschenhandel und Migration dazu führen, dass tausende Familien nach ihren Angehörigen suchen. "Es ist ein sehr großes Problem. Wir als Internationales Rotes Kreuz haben uns besonders den Nordosten des Landes angeschaut, der mittlerweile mehr als zwölf Jahre eine Konfliktzone ist. Wir haben mehr als 25.000 vermisste Personen gezählt, indem wir Familien kontaktiert haben."
Wahrscheinlich sei dies nur die Spitze des Eisberges, sagt Bonzon: "Wir haben wahrscheinlich weit mehr Menschen, die vermisst werden, nicht nur im Nordosten, sondern überall im Land, besonders in Regionen, die von Unsicherheiten und Gewalt betroffen sind."
"Boko Haram" terrorisiert die Region
Und von diesen Regionen gibt es in Afrikas bevölkerungsreichstem Staat viele. Seit Jahrzehnten kämpft Nigerias Armee gegen die Terrormiliz "Boko Haram". Sie verübt blutige Anschläge und entführt Menschen, vor allem Kinder. Sie sollen mehr als die Hälfte der Vermissten im Land ausmachen.
2014 sorgte das sogar weltweit für Schlagzeilen: In einer Massenentführung im nordöstlichen Bundesstaat Borno kidnappten die Terroristen von "Boko Haram" 276 Schülerinnen aus dem Ort Chibok. Die Social-Media-Kampagne #BringBackOurGirls fand Sympathisierende auf der ganzen Welt. Einige der Mädchen und jungen Frauen konnten später fliehen oder wurden befreit, aber noch immer werden viele von ihnen vermisst. Ein Register für dieses wachsende, ungelöste Problem ist lange überfällig.
Author: Dawn Perkins
Last Updated: 1703154603
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